AVIA: Hallo Gerd, der typische Schwarz-weiß-Maler wird nach dem Wochenende sagen: Das war’s jetzt wohl mit der Vorfreude auf den ersten deutschen Tourneegesamtsieg nach 23 Jahren. Was meinst du dazu?
Gerd Siegmund: Das sehe ich auf gar keinen Fall so, um nicht zu sagen, das ist Käse. Pius Paschke kommt in Gelben Trikot des Weltcupführenden nach Oberstdorf. Auch Andreas Wellinger zähle ich zum Kreis der Mitfavoriten. Aber da gibt es diesmal so viele Kandidaten wie lange nicht, vielleicht mehr als eine Handvoll Anwärter, die in der Lage sind, die Tournee zu gewinnen. Dass die Deutschen bei schwierigen Bedingungen in Engelberg erstmals in dieser Saison nicht auf dem Podest standen, ist kein Beinbruch.
AVIA: Aber die Gründe dafür wirst du uns bestimmt erläutern, oder?
Gerd Siegmund: Der Bundestrainer hat ja selbst gesagt, dass Pius leicht erkrankt angereist ist. Deshalb hat er vermutlich nicht diese für ihn optimale Anfahrtsposition gefunden und infolgedessen auch nicht den optimalen Absprung erwischt. Ich sehe da keineswegs schwarz. Das sind Kleinigkeiten, die sich rein vom Ergebnis schon eine große Wirkung zeigen. Das kann aber mit frischen Kräften zum Tourneeauftakt schon wieder ganz anders aussehen. Auch bei Andi Wellinger fehlt aus meiner Sicht nicht viel. Sein zweiter Sprung am Samstag war schon Sahne.
AVIA: Die Favoritenrolle liegt ohnehin bei den Österreichern …
Gerd Siegmund: Klares ja. Sie haben sich in einen wahren Rausch gesprungen. Es hat den Anschein, dass sich mehrere Nationen verbünden müssten, um Team Austria vom Tourneegesamtsieg abzuhalten. Wenn du mich festnageln würdest, tendiere ich zu Stefan Kraft als meinen Topfavoriten.
AVIA: Warum?
Gerd Siegmund: Wenn er nach dem Absprung wieder etwas mehr Höhe bekommt, ist er mit seinen außergewöhnlichen Flugfähigkeiten einfach phänomenal. Auch seine Beständigkeit und Erfahrung sprechen für ihn. Nach wie vor gilt jedoch der viel zitierte Satz: Du kannst die Tournee in Oberstdorf nicht gewinnen, aber schon verlieren. Deshalb ist das alles auch ein bisschen wie Kaffeesatzlesen.
AVIA: Im Gegensatz zu den Frauenspringen. Da braucht es nicht viel Fantasie, um Katharina Schmid als Topfavoritin für die sogenannte Two-nights-Tour zu nennen.
Gerd Siegmund: Ja, zunächst ist es schade, dass die Damen den Wetterkapriolen am Sonntag zum Opfer gefallen sind. In Bezug auf Katharina gibt es keine zwei Meinungen. Wer von fünf Wettbewerben drei gewinnt und zweimal Zweiter wird, sollte mit viel Selbstvertrauen in die Tour, die übrigens erstmals wie bei der Herrentournee mit K.-o.-Duellen durchgeführt wird, gehen.
AVIA: Wie schätzt du die Lage nach der deutschen Nummer 1 ein?
Gerd Siegmund: Nicht so schlecht. Während die Herren nach den Top 3 mit Paschke, Wellinger und Karl Geiger in Engelberg regelrecht eingebrochen sind, konnte Selina Freitag selbst mit Fehlern noch Achte werden. Auch Agnes Raisch hat sich als 13. gut zurückgemeldet.
AVIA: Bei den Männern steht eine Personalentscheidung an. Wie siehst du diese?
Gerd Siegmund: Da möchte ich nicht in der Haut von Bundestrainer Stefan Horngacher stecken. Er hat nur sechs Startplätze für den Tourneeauftakt, einer davon ist personengebunden an Adrian Tittel, den Dritten der letzten Junioren-WM, vergeben. Also muss aus dem Trio Stephan Leyhe, Philipp Raimund und Markus Eisenbichler einer daheimbleiben.
AVIA: Danke fürs Gespräch.
Statistik
Siegerpodeste in Engelberg, Samstag: 1. Jan Hörl, 2. Daniel Tschofenig (beide Österreich), 3. Gregor Deschwanden (Schweiz); Sonntag: 1. Tschofenig, 2. Hörl, 3. Stefan Kraft (alle Österreich).
Siegerpodest Vierschanzentournee, Oberstdorf 2023: 1. Andreas Wellinger (Ruhpolding), 2. Ryoyu Kobayashi (Japan), 3. Kraft. Tourneegesamtwertung 2024: 1. Kobayashi, 2. Wellinger, 3. Kraft.