AVIA: Hallo Gerd, wie empfindest du es bei den Herren aus deutscher Sicht: Glas halb voll und halb leer nach den ersten zwei Tourneespringen?
Gerd Siegmund: Angesichts der Vorleistungen überwiegt schon ein bisschen die Enttäuschung. Aber klar ist auch: Wenn die Österreicher mit über 1000 Punkten Vorsprung in der Nationenwertung in Oberstdorf anreisen und dort mit fünf Mann in der Qualifikation vorn sind, dann löst das auch was bei der Konkurrenz aus. Ich will nicht von Schockstarre sprechen: Dass man sich aber darüber Gedanken macht, wie man diese Lücke schließen kann, ist wohl bei einem Leistungssportler menschlich.
AVIA: Muss man - realistisch betrachtet - den ersten deutschen Tourneesieg nach 23 Jahren jetzt schon abhaken?
Gerd Siegmund: Ich fürchte ja. Normalerweise kann nur noch ein sehr starker und vor allem beständiger Gregor Deschwanden in die Phalanx der Österreicher einbrechen. Wobei: Johann André Forfang fliegt ein bisschen unter dem Radar von allen. Auch der Norweger ist noch mit im Rennen. Bei Karl Geiger, der eine sehr gute Tournee springt und dem nur noch ein Tick nach ganz vorn fehlt, dürfte der Abstand mit rund 40 Zählern dagegen schon zu groß sein. Pius Paschke müsste seine Leichtigkeit wiederfinden und auf Patzer der Konkurrenz hoffen.
AVIA: Dann hoffen die deutschen Fans wohl, dass die Tournee in Österreich unnormale Züge annimmt…
Gerd Siegmund: Bei der Vierschanzentournee hat es schon die kuriosesten Geschichten gegeben, die sich vorher niemand vorstellen konnte. Ich habe extra mal den Wetterbericht gecheckt. Der sagt allerdings keinen Fön oder Turbulenzen für Innsbruck voraus. Das ist zwar an sich schön, aber dadurch wird es auch schwerer, mit Glück mal paar Punkte mehr aufzuholen.
AVIA: Wie beurteilst Du die nun klar verteilten Rollen? Die Österreicher schoben die Favoritenbürde bisher immer Pius Paschke zu …
Gerd Siegmund: Daniel Tschofenig trägt jetzt das Gelbe Trikot des Weltcupführenden, und sie stehen mit Jan Hörl und Stefan Kraft zu dritt in der Tourneewertung vorn. Sie sind also die Gejagten und haben alles zu verlieren. Das Stadion am Bergisel wird ausverkauft sein - ein Hexenkessel also – gefüllt mit riesigen Erwartungen der heimischen Fans. Ich bin gespannt, wie die Österreicher diese Challenge meistern.
AVIA: Nach außen wirkt die Mannschaft eher locker als dass sie sich darüber den Kopf zerbrechen würde. Oder?
Gerd Siegmund: Trotzdem: Selbst ein erfahrener Mann wie Stefan Kraft, der fast alles gewonnen hat, sprach in Oberstdorf von extremer Nervosität. Insgesamt sehe ich zwei verschiedene Herangehensweisen. Die Österreicher spielen im Auslauf Tischtennis, machen Fotos mit Fans. Die Deutschen sieht man weniger draußen, sie schotten sich mehr ab. Man wird am Ende sehen, was erfolgreicher ist.
AVIA: Noch einen Schwenk zu den Frauen, deren Two-Nights-Tour schon wieder beendet ist. Auch da ist die deutsche Erfolgsserie der bisherigen Saison gerissen. Wie lautet deine Einschätzung?
Gerd Siegmund: Nochmal zu den Herren: Ich würde davon weggehen, immer von einem Tourneefluch oder vom Schicksals-Bergisel oder so zu sprechen. Klar hat es nicht so geklappt, wie sich das alle erhofft hatten. Das Team ist zur Tournee mal wieder nicht in Topform. Punkt. Dennoch: Wie sich Pius Paschke nach dem schlechten Training in Oberstdorf gesteigert und ein Kämpferherz bewiesen hat, ist aller Ehren wert.
AVIA: Und nun zu den Frauen.
Gerd Siegmund: Ja, mit Nika Prevc hat sich die beste Springerin durchgesetzt. Bei Selina Freitag ist es ein Lernprozess, mit Nervosität umzugehen - zum Beispiel, wenn sie als letzte auf dem Balken sitzt. Aber das ist normal. Katharina Schmid hat klar die Tendenz, zu spät abzuspringen. Und man muss generell festhalten: Es hat den Anschein, dass sich kleinste Fehler – ob bei den Herren oder Damen – mehr auswirken als früher und entsprechend härter bestraft werden. Dann reicht es eben nicht mehr für ganz vorn.
AVIA: Danke fürs Gespräch