Ist der deutsche Sprungstil nicht mehr zeitgemäß?

Mit Halvor Egner Granerud hat 16 Jahre nach Anders Jacobsen wieder ein Norweger die Vierschanzentournee gewonnen. Aus deutscher Sicht war bei dieser 71. Auflage mehr Schatten zu sehen, Lichtblicke gab es aber auch. Nah dran am Geschehen war unser Skisprungexperte Gerd Siegmund. Was also müssen die die deutschen Ski-Adler machen, um bis zur WM in Planica wieder flügge zu werden? Wir haben nachgefragt.


AVIA: Hallo Gerd, fangen wir mal gebührend mit dem Gesamtsieger an. Was sagst Du zu Halvor Egner Graneruds erstem Tourneesieg?

Gerd Siegmund: Er hat es eindrucksvoll zu Ende gebracht, auch in Innsbruck, wo ihm die Schanze nicht so liegt, konnte er dem Druck standhalten. Gerade sein erster Sprung in Bischofshofen war eine Demonstration seines Könnens.

AVIA: Erkläre doch mal bitte, wie er im Finalsprung trotz der Schaukelei seiner Skier im Flug am Ende noch so weit unten landen konnte?

Gerd Siegmund: Das ist fast schon ein Gesetz im Skispringen, dass sich, egal ob Parallel- oder V-Stil, nicht geändert hat: Wenn du richtig gut in Form bist und Selbstvertrauen hast, dann machen kleine Fehler nichts aus und es trägt dich bis runter. Bist du auf Formsuche, summieren sich die Kleinigkeiten fragst dich, warum fliegst du hinterher.

AVIA: Was war das Ausschlaggebende für diese Topform von Granerud?

Gerd Siegmund: Er hat im Sommer die richtigen Entscheidungen getroffen. Das fängt beim Wechsel der Skimarke von fluege.de zu BWT, hinter dem ja ein Fischer-Ski steckt, an. Der neue Ski ist oben nach dem Absprung vielleicht etwas ruhiger, kommt nicht so schnell in Richtung Körper. Das kommt seinem Sprungstil entgegen. Sein Problem, dass er zu weit nach rechts fliegt, hat er auch dadurch momentan im Griff.

AVIA: Die Fans fragen sich besonders, was in Deutschland momentan nicht funktioniert. Hast Du Antworten?

Gerd Siegmund: Zunächst muss man es differenziert sehen. Philipp Raimund ist bei jeder Kritik außen vor. Der Junge macht Spaß, hat seine Leistung gebracht. Auch Andreas Wellinger konnte ansatzweise sein Potenzial zeigen. Insgesamt wurde aber auch eines klar: Wenn du schon vor der Tournee nicht in Form bist, findest du sie während der Tournee auch nicht. Es ist schon ernüchternd, wie mühsam es ist, Selbstvertrauen aufzubauen und sich eine funktionierende Technik anzueignen. Und wie schnell kann im Vergleich dazu eine Technik komplett auseinanderbrechen.

AVIA: Wie meinst Du das?

Gerd Siegmund: Es hat sich schon beim letzten Fliegen in Planica im Vorwinter mit den starken Slowenen angedeutet, dass sich das Skispringen weiterentwickelt hat. Nun kam im Sommer noch eine Materialänderung hinzu, das Hüftband im Anzug ist weggefallen. Dadurch strömt wieder etwas mehr Luft in den Beinbereich ein. Die neue Messtechnik hat sicher auch dazu geführt, dass der eine oder andere Springer ein, zwei Zentimeter gewonnen oder verloren hat, entsprechend besser oder weniger gut fliegt. Das hört sich nicht viel an, in der Summe führt es aber dazu, dass sich das Technikleitbild verändert hat.

AVIA: Heißt das in der Konsequenz, dass der deutsche Stil, nämlich nach dem Absprung nicht gleich so aggressiv in die Vorlage zu gehen, ausgedient hat?

Gerd Siegmund: Zumindest sagen die Ergebnisse, dass dieser Sprungstil derzeit nicht mehr funktioniert. Im Herbst hat es sich schon angedeutet. Wenn du es schaffst, dich schnell in eine Fluglage mit einem leichten Hüftknick zu bringen, wo der Ski quasi unter und nicht vor dir steht, dann segelst du runter. Der Kraftimpuls beim Absprung gehört schon auch noch dazu, aber die Wertigkeiten haben sich offenbar verschoben in Richtung Flughaltung.

AVIA: Also was tun, um wieder in die Weltklasse zurückzukehren?

Gerd Siegmund: Ich denke, das ist mit hier oder da mal zwei Trainingssprüngen und der Qualifikation nicht zu schaffen. Wenn du drei, vier Jahre so springst und es ja auch erfolgreich war, dann kannst du das nicht von einem auf den anderen Sprung lösen. Das wird nur im Trainingslager, mit Unterstützung der Wissenschaft, möglich sein. Ich könnte mir vorstellen, dass die A-Mannschaft den Japan-Weltcup auslässt und diese Zeit nutzen wird, um bis zur WM Planica wieder den Anschluss zu finden. Das wird schwer genug.

AVIA: Bei den derzeit weltbesten Skispringern Granerud, Dawid Kubacki und Anze Lanisek sind durchaus Unterschiede erkennen. Gibt es also viele Wege, die nach Planica führen?

Gerd Siegmund: Das ist auch ein Punkt, der mir aufgefallen ist: Ich frage mich manchmal, wo ist die Individualität bei unseren Springern geblieben? Mir kommt es so vor, es muss alles gleich sein – die Anfahrt, der Sprungstil bis hin zum Anzug. Aber die Athleten sind unterschiedlich, allein schon körperlich. Mir fehlt, dass jeder Springer genügend Spielraum hat, seine Stärken auszuspielen.

AVIA: Danke dir für die Einschätzung!

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