AVIA: Hallo Gerd, gib uns doch bitte noch eine kleine Einschätzung zu Wisla.
Gerd Siegmund: Das Feld rückt in Richtung Vierschanzentournee immer enger zusammen. Am Samstag der Teamwettbewerb war schon ein windiges Spiel: Spannend für den Zuschauer zwar, aber sicher nicht entspannt für die Trainer und Athleten. Letztlich hat Österreich knapp, aber verdient gewonnen. Am Sonntag wurde dieses Ergebnis mit dem ersten Einzelsieg von Jan Hoerl und Rang drei für Stefan Kraft bestätigt.
AVIA: Die Frage nach dem Auf und Ab von Halvor Egner Granerud drängt sich förmlich auf. Was sagt der Fachmann?
Gerd Siegmund: Ja, da ist von Platz eins in Nischni Tagil über das Scheitern in der Qualifikation von Ruka bis zu Rang 48 in Wisla alles dabei. Der Norweger verkörpert also eine echte Wundertüte. An seinem Beispiel sieht man, wie komplex die Sportart ist. Ich vergleiche es gern mit einem Puzzle: Wenn nur ein oder zwei Teile fehlen, dann ist das Bild nicht klar. Ich werde das am Wochenende in Klingenthal mal aus der Nähe betrachten. Er ist ja schon immer im Flug etwas nach rechts abgedriftet, aber nicht so viel wie in Wisla.
AVIA: An was kann das liegen?
Gerd Siegmund: An einem einseitigen Absprung, an einer nicht symmetrischen V-Stellung der Ski oder aber auch an den Schuhen. Es scheint sich ein massiver technischer Fehler eingeschlichen zu haben. Es ist eine Spekulation, aber die Schuhe sind nach wie vor das Bauteil, was den größten Spielraum für Tüftelei lässt. Der Schuh ist eines der größten Geheimnisse, weil der Athlet selbst die Abstimmung mit Ski und Bindung vornimmt. Tom Rass als Hersteller liefert in dem Fall zwar ein Basismodell je nach Wunsch, aber der Athlet kann es noch individuell - zum Beispiel mit Carbonteilen am Schaft - noch verfeinern.
AVIA: Klingenthal steht vor der Tür. Was erwartest Du?
Gerd Siegmund: Laut Veranstalter ist Ryoyu Kobayashi nach seiner Corona-Infektion zurück. Ich bin gespannt, ob er sich in der Quarantäne im Hotel in Ruka so fit halten konnte, dass er weiter konkurrenzfähig ist. Zumindest hat er ein paar Aktivitäten mit Gummibändern aus dem Hotelzimmer in seinen sozialen Netzwerken gepostet. Ich traue ihm einen Spitzenplatz zu, wenn er einen milden Krankheitsverlauf hatte. Und davon gehe ich aus.
AVIA: Wer könnte dem Japaner gefährlich werden?
Gerd Siegmund: Da gibt es sehr viele Springer. Zum Sommer-Grand-Prix ist auch Granerud mit der Schanze gut zurechtgekommen. Einen Marius Lindvik hatte ich bisher nicht unbedingt auf dem Zettel, aber er hat sich als Zweiter in Wisla eindrucksvoll zurückgemeldet. Und Karl Geiger oder Markus Eisenbichler können natürlich auch jederzeit aufs Podium fliegen. Nicht zuletzt hat sich bei den Damen Katharina Althaus rechtzeitig vor dem Heimspiel in Topform gebracht, wie Platz eins und zwei in Lillehammer zeigen.
AVIA: Leider kann wie schon im Februar des Jahres kein Fan live in der Vogtland-Arena dabei sein. Sicher leidest Du mit Deinen ehemaligen Sportkameraden im Vogtland mit?
Gerd Siegmund: Ja, mit ihnen und natürlich auch den Sportlern. Der Veranstalter hat sich dennoch wieder sehr viel Mühe gegeben, um eine top präparierte Schanze hinzustellen. Das war aufgrund der Wetterlage gar nicht so einfach. Die langjährige Erfahrung hilft eben. So konnte auch Kunstschnee aus einem Depot des Vorwinters verwendet werden. Umso mehr ist es schade, dass erneut keine Zuschauer in die Arena dürfen - genauso wie übrigens zum Jahreswechsel bei der Vierschanzentournee in Deutschland. Für Innsbruck und Bischofshofen gibt es noch keine Entscheidung. Willingen plant derzeit mit Fans. Man kann einfach nur hoffen, dass die Fans, die das Salz in der Suppe sind, bald wieder ins Stadion dürfen.
AVIA: Danke fürs Gespräch.