AVIA: Gerd, bist Du schon wieder aufgetaut? Bei den deutschen Ergebnissen muss es Dir ja warm ums Herz geworden sein…
Gerd Siegmund: Alles gut. Es ist doch schön, dass wir schon den zweiten Weltcup mit schönstem Winterwetter beobachten konnten und hochklassigen Sport gesehen haben. Ruka hat dann als finnische Heimat des Weihnachtsmannes noch eins draufgesetzt, auch wenn es bei bis zu minus 22 Grad schon sehr knackig war.
AVIA: Was bedeuten diese Temperaturen für die Athleten?
Gerd Siegmund: Es gibt natürlich eine Logistik, die hilft. Betreuer bringen die wärmenden Jacken oder Überzüge vom Anlauf mit dem Lift nach unten, wo sich die Springer gleich wieder etwas drüberziehen. Unter dem Sprunganzug ist aber nicht viel. Die Unterkombi darf an Beinen und Armen nur kurz sein. Das ist Vorschrift, um Flächenvergrößerungen unter dem Anzug zu vermeiden. Sich einigermaßen warm zu halten, ist wichtig und schwierig, wenn bei dieser Kälte auf dem Turm noch mit zwei bis drei Meter pro Sekunde der Wind pfeift.
AVIA: Anze Lanisek hat dies hervorragend gemeistert, trotz mehrerer Minuten Wartezeit vor seinem letzten Sprung. Wie schätzt Du seinen Auftritt ein?
Gerd Siegmund: Ja, das war großes Kino. Die Slowenen allgemein haben sich gut entwickelt, wie ich finde. Mit Platz zwei und eins gehört Lanisek für mich, auch wenn es noch früh in der Saison ist, zu den Kandidaten auf den Weltcupgesamtsieg. Dagegen stehen die Polen vor dem Heimspiel in Wisla ziemlich unter Druck. Momentan kommen sie an die Erfolge der jüngsten Vergangenheit nicht heran.
AVIA: Ganz anders als das deutsche Team. Hast Du diese mannschaftliche Geschlossenheit so erwartet?
Gerd Siegmund: Das war schon beeindruckend. Deutschland ist momentan eine Macht im Skispringen. Vier Springer am Sonntag unter den Top 10 – das bringt Selbstvertrauen. Die Mannschaft von Stefan Horngacher führt die Nationenwertung an und Karl Geiger startet in Wisla als Weltcupführender. Also da gibt’s nichts zu meckern. Umso schwieriger wird es für den Rest in Deutschland, in dieses Weltcupteam hereinzukommen, um überhaupt erst mal eine Chance auf die Olympiaqualifikation zu erhalten.
AVIA: Aber wie die noch junge Saison gezeigt hat, gibt es gerade in der Pandemie viele Unwägbarkeiten…
Gerd Siegmund: Ja, Ryoyu Kobayashi hat es mit einem positiven Befund erwischt. Keiner weiß, wie es in der Blase, in der sich die Skispringer seit Nischni Tagil befinden, dazu kommen konnte. Zudem habe ich erfahren, dass er schon einmal im Mai mit dem Virus infiziert war. Aber ich bin kein Mediziner. Fest steht, Ryoyu muss wie der deutsche Trainer Andi Wank auch noch einige Tage in Ruka im Hotelzimmer in Quarantäne verbringen. Damit fällt der Japaner in Wisla definitiv aus. Mal schauen, ob seine körperliche Verfassung eine Woche später schon wieder gut genug für einen Start in Klingenthal ist.
AVIA: Auch der zweite Topspringer des Sommers hat überraschend zu kämpfen. Wie erklärst Du Dir die Schwierigkeiten von Halvor Egner Granerud?
Gerd Siegmund: Ein bisschen hat sich das schon im Training angedeutet. Man sieht: Ein kleiner Fehler, dazu schwierige Windverhältnisse, und schon ist selbst so ein Topmann nicht einmal für den Wettkampf qualifiziert – und dies gleich zweimal. Das zeigt, welch‘ hohes Niveau insgesamt im Feld herrscht. Vielleicht kommt Granerud, der ja im Flug oft ein bisschen nach rechts abdriftet, auch nicht so gut mit Rückenwind zurecht wie zum Beispiel der absprungstarke Karl Geiger. Klar ist aber: Den Norweger musst Du weiterhin auf dem Zettel stehen haben.
AVIA: Danke für das Gespräch.