AVIA: Gerd, es kommt in diesem Winter kein Normalschanzenspringen mehr. Mal Hand aufs Herz, ist der Rückstand für Karl Geiger noch aufholbar?
Gerd Siegmund: Ja, ich denke schon. Es stehen zwar nur noch fünf Großschanzen-Weltcups und das Fliegen in Vikersund an. Aber es ist noch realistisch, gerade, wenn man bedenkt, wie schnell einen die Windverhältnisse auch mal ausbremsen können. Aber klar: Auf dem Papier liegt das Momentum bei Stefan Kraft. Er hat in Rasnov bewiesen, dass er derzeit wohl der kompletteste Skispringer ist.
AVIA: Als Team der Stunde entpuppte sich in Rasnov aber die deutsche Mannschaft. Was sagst Du zum Abschneiden mit vier Podestplätzen an zwei Tagen?
Gerd Siegmund: Ja, unglaublich stark, wie sich die Jungs von Stefan Horngacher geschlagen haben. Wenn ich mich an den Abend mit dem einen oder anderen Frustbier nach dem desaströsen Teamspringen in Klingenthal zu Saisonbeginn erinnere, da hat sich einiges zum Guten gewendet. Inzwischen ist die Nationenwertung, in der wir nur noch 212 Zähler Rückstand auf Österreich haben, wieder ein Thema geworden.
AVIA: Also hat der Bundestrainer alles richtig gemacht?
Gerd Siegmund: Sehr vieles. Die Fakten sind, er hat Stephan Leyhe zum Siegspringer geformt, Constantin Schmid zum ersten Podestplatz seiner Karriere verholfen und mit Karl Geiger einen Kandidaten für den Gesamtweltcup im Rennen. Der Bundestrainer hat von Beginn an Geduld eingefordert. Karl Geiger ist für ihn dabei ein Glücksfall gewesen.
AVIA: Inwiefern?
Gerd Siegmund: Weil er von Anfang an die Ergebnisse eingefahren hat, konnte Horngacher in Ruhe weiterarbeiten. Geiger hat außerdem den Teamgefährten das Signal gegeben, dass die Philosophie von Stefan Horngacher über kurz oder lang zum Erfolg führt.
AVIA: Was verbirgt sich hinter der Philosophie?
Gerd Siegmund: Eine zentrale Anfahrtsposition, den Schwerpunkt vorn halten und mit beiden Füssen gegen den Schanzentisch drücken. So schafft es der Springer, die maximale Kraft anzubringen. Materialtechnisch war es übrigens auch wichtig, mit den neuen Anzügen bis zur Tournee abzuwarten und dann diesen Joker auszuspielen.
AVIA: Ist Schmid in naher Zukunft der deutsche Mann für die Medaillen?
Gerd Siegmund: Das Alter, sein Talent, sprechen für ihn. Ich traue ihm zu, dass er mal ein Großer wird. Er konnte in jungen Jahren einige Medaillen bei Junioren-Weltmeisterschaften gewinnen, feierte schon mit 17 sein Weltcup-Debüt. Horngachers Vorgänger Werner Schuster hat auch schon sehr viel von ihm gehalten. Constantin hat ähnlich gute Hebel für den Absprung. Von den Topspringern steht er neben Dawid Kubacki fast immer mit am höchsten in der Luft.
AVIA: Was ist er für ein Typ?
Gerd Siegmund: Soweit ich weiß, ist er ein netter, aufgeweckter Junge aus Oberaudorf, der als Kind als Kombinierer angefangen hat, beim Langlauf aber keinen Spaß mehr hatte, und deshalb nur noch gesprungen ist. Trotz seines jungen Alters erledigt er seine Aufgaben schon sehr professionell.
AVIA: Noch ein Wort zum Comeback von Severin Freund.
Gerd Siegmund: Platz 32 und 29 lagen im Bereich des Erwarteten. Man sieht, dass sich das Skispringen in seiner 14-monatigen Wettkampfabstinenz wegen seiner Knieverletzungen weiterentwickelt hat. Dass er am zweiten Tag Weltcuppunkte sammeln konnte und sich so für die Schinderei in der Reha belohnt hat, freut mich sehr. Zu Recht bekommt er nun in Lahti die Chance, weitere Weltcuppunkte zu sammeln.
AVIA: Was sagst Du zu Rasnov als Weltcuport?
Gerd Siegmund: Ich würde es begrüßen, wenn die Rumänen mal wieder im Terminkalender auftauchen. Mit den winzigen Abständen geht es auf der Normalschanze immer spannend zu. Und für die Entwicklung des Skispringens wäre es für das Land auch gut.