AVIA: Nicht des Kaisers neue Kleider, aber des Springers verbotene Anzüge sorgten im Kuusamo für GesprächsSTOFF – im wahrsten Sinne des Wortes. Erleben wir im Weltcupzirkus gerade eine Materialschlacht?
Gerd Siegmund: Vieles deutet darauf hin. Fünf Disqualifikationen – davon dreimal Norwegen und zweimal Slowenien – sind ein bisschen viel auf einmal. In der Vergangenheit gab es ja bei Beanstandungen meist Abweichungen, was vorgeschriebene Schnitte und den zu langen Schritt der Anzüge betraf. Diesmal aber waren ausschließlich die nicht regelkonformen Werte in der Luftdurchlässigkeit der Anzugstoffe der Grund, warum die Sportler disqualifiziert wurden.
AVIA: Was hat es mit der Luftdurchlässigkeit auf sich?
Gerd Siegmund: Da gibt es klare Vorgaben. Kontrolliert werden die Sprunganzüge mit einem so genannten Luftmengenmesser. Pro Quadratmeter Anzugfläche muss der Wert mindestens 40 Liter in der Sekunde betragen. Ist er geringer, könnte es einen aerodynamischen Vorteil bedeuten. Alle fünf disqualifizierten Springer lagen außerhalb der Toleranzgrenze.
AVIA: Heißt das übersetzt, die Athleten schneidern sich Flugballons und hoffen, dass sie irgendwie durch die Kontrolle kommen?
Gerd Siegmund: Die zehn Erstplatzierten werden immer kontrolliert, im ersten Durchgang gibt es zudem Stichproben. Die großen Nationen haben ihr eigenes Messgerät immer dabei. Also blindlinks wird da keiner verbotene Dinge tun. Aber ich könnte mir vorstellen, dass einige Nationen ziemlich ans Limit gehen.
AVIA: Früher war das einfacher. Da gab es vom Weltverband FIS vor der Saison eine Messung und bei bestandenem Test eine Plombe im Wadenbereich des Anzuges. Damit war der Anzug dann einen Winter regelkonform…
Gerd Siegmund: Die Plombierung gibt es seit einigen Jahren nicht mehr. Seit die Top-Nationen in der Lage waren, rund um die Plombe einen Anzug komplett mit Stoffen zu erneuern, machte diese Kontrollmethode keinen Sinn mehr. Die Teams haben praktisch ihre persönlichen Schneider, die den Athleten individuell den Anzug nähen. Im Sommer werden die Stoffe schon im Windkanal getestet.
AVIA: Klingt nach einer aufwendigen und teuren Wissenschaft…
Gerd Siegmund: Die ist es auch. Die Cheftrainer gehen bei den Stoffherstellern aus und ein und versuchen natürlich, im Sommer und Herbst innovativ zu sein, um etwas Neues und Besseres zu finden. Sollten Tests Vorzüge ergeben, kaufen die Nationen dann komplett den Stoff auf, um anderen Ländern keinen Zugriff mehr zu ermöglichen.
AVIA: Ein bisschen provokativ gefragt: Auf den Springer selbst kommt es aber auch noch an?
Gerd Siegmund: Ja klar. Aber wenn der Anzug den Springer nur 0,5 km/h in der Luft schneller macht, kann ihm das im letzten Flugdrittel einige Meter und damit den Sieg bringen.
AVIA: Erwartest Du auch zur Vierschanzentournee eine Anzugdiskussion?
Gerd Siegmund: Davon gehe ich aus, denn wenn Nationen diesbezüglich etwas in petto haben, werden sie damit bis zur Tournee warten und den Anzug erst dann vor der Konkurrenz herausholen.
AVIA: Was lässt sich zum sportlichen Teil der Veranstaltung in Finnland noch sagen?
Gerd Siegmund: Obwohl Daniel Andre Tande seinen zweiten Sieg eingefahren hat, bleibe ich dabei, dass wir keinen Seriensieger in dieser Saison sehen werden.
AVIA: Dann blicken wir umso gespannter nach Nischni Tagil. Was erwartest Du bei den Springen in Russland?
Gerd Siegmund: Zunächst einmal finde ich es erwähnenswert, dass AVIA seit mehreren Jahren den Veranstalter dort als Hauptsponsor unterstützt. Sportlich betrachtet sind auch diese Anlagen etwas windanfällig, aber das kommt ganz auf die Richtung an. Inzwischen stehen dort kompakte Windnetze, die gut schützen können.
AVIA: Dann wünschen wir unserem AVIA-Skisprungexperten einen guten Flug, hoffentlich in einem bequemen Anzug auf der langen Anreise…
Gerd Siegmund: Das werde ich beherzigen.