Skisprungexperte Gerd Siegmund bezieht im AVIA-Interview Stellung zum Anzugskandal von Trondheim. Der 52-Jährige fordert nach den Disqualifikationen von Normalschanzen-Weltmeister Marius Lindvik und Johann André Forfang drastische Strafen.
AVIA: Hallo Gerd, du hattest schon vor der WM geäußert, dass dir die Materialdiskussion rund ums Skispringen zu dominiert ist. Was sagst du jetzt?
Gerd Siegmund: Eigentlich hätte es ja eine schöne WM werden können… Die Zuschauermassen, tolle und spannende Springen. Aber über Großschanzen-Weltmeister Domen Prevc oder die Medaillengewinner redet nun keiner mehr. Ich hatte bereits nach Willingen die Hoffnung geäußert, dass die Springer in Sachen Anzüge mal ein bisschen vom Gas gehen. Und nun das. Ich glaube, die Folgen für die Sportart und das norwegische Team sind noch gar nicht abzusehen.
AVIA: Hast du dir so ein Ausmaß der Manipulation vorstellen können?
Gerd Siegmund: Nein. Jeder weiß, dass alle, dass jedes Team versucht, mit legalen Mitteln das Optimum herauszuholen. Aber bewusst das Material zu manipulieren, überschreitet eine Grenze deutlich. Das ist Betrug an der Konkurrenz und allen Fans und Zuschauer gegenüber.
AVIA: Und wie die Trickserei in Trondheim aufgeflogen ist, mutet mehr als ominös an. Was meinst du dazu?
Gerd Siegmund: Ich bin kein Freund von der Art und Weise, wie das aufgedeckt wurde. Aber unterm Strich muss man sagen: Ohne dieses ominöse Video hätte das alles zu 99 Prozent keiner gemerkt. Viele haben sicher vermutet, dass was läuft in diese Richtung. Es muss jemanden gegeben haben, dem das so gestunken hat, dass er sich auf die Lauer gelegt und die Mauschelei gefilmt hat.
AVIA: Glaubst du den Norwegern, dass nur Lindvik und Forfang und beide nur im Einzel auf der Großschanze manipulierte Anzüge verwendet haben?
Gerd Siegmund: Für mich erschließt sich das nicht. Die Norweger hatten mit Gold für Lindvik auf der Normalschanze sowie im Mixed und Bronze im Team eine hervorragende WM gesprungen – das sind mehr Medaillen, als man sich ausrechnen konnte nach dem Saisonverlauf. Und dann fange ich vor dem letzten Springen an, die Anzüge zu manipulieren? Wenn ich das noch nie gemacht habe, womit das Risiko ja höher ist, dass ich damit auffliege. Ich glaube nicht, dass das den Norwegern in der Nacht vor dem letzten Springen eingefallen ist.
AVIA: Wäre es denn realistisch möglich, die Anzugreglementierung generell freizugeben? Dann hätte niemand einen Vorteil.
Gerd Siegmund: Das geht natürlich nicht. Der Wettkampf muss von der Jury steuerbar bleiben. Wenn sich da jeder irgendwelche Wingsuits, also eine Art Segelanzüge zusammenbastelt, läuft das aus dem Ruder. Man hat schon gesehen, wie Timi Zajc im Vorwinter in Willingen mit einem reglementierten Anzug unten vom Hang weggeflogen ist. Das ist dann nicht mehr kontrollierbar. Ich denke, ein wichtiger Punkt wäre, Regelverstöße härter zu bestrafen.
AVIA: An was denkst du?
Gerd Siegmund: Das Reglement muss überarbeitet werden, damit klar ist, für welche Vergehen welche Sanktionen ausgesprochen werden. Und es braucht wie gesagt härtere Strafen. Vielleicht sollte es ein Komitee geben ähnlich wie im Fußball. Das verteilt dann Gelbe oder Rote Karten und spricht die Sperren aus. Anders scheint man das Problem nicht in den Griff zu bekommen. Und wenn du im Winter zum Beispiel vier Wochen nicht springen darfst, geht das ans Geld. Jeder wird sich dann genau überlegen, was er macht oder besser nicht macht.
AVIA: Danke fürs Gespräch.