Die Psychospielchen vor Peking

Die Olympia-Generalprobe in Willingen endete mit Triumphen von Marita Kramer und Nika Kriznar bei den Damen. Bei den Herren der Lüfte untermauerten die siegreichen Ryoyu Kobayashi und Marius Lindvik ihre Medaillenambitionen für die Winterspiele. Am Wochenende stehen in Peking die Einzelwettbewerbe auf der Normalschanze an. Wer sind die Favoriten, welche Charakteristik haben die Schanzen in Peking, was gibt es Neues in Sachen Material? AVIA hat Skisprungexperte Gerd Siegmund vor dem Saisonhighlight befragt.


AVIA: Hallo Gerd. Willingen war insgesamt eine windige Angelegenheit. Lassen sich trotzdem Schlüsse für die Olympiaspringen ziehen?

Gerd Siegmund: In der Regel setzen sich auch bei Wind die Besten durch. Das spiegeln auch die Ergebnisse von Willingen wider. Wer auf dem Podest gelandet ist, gehört jetzt auch zum Favoritenkreis. Und ich lehne mich mal aus dem Fenster: Karl Geiger wird auf der kleinen Schanze derjenige sein, den es zu schlagen gilt. Mit seinem zweiten Platz am Sonntag hat er sich verdient die Weltcupgesamtführung zurückerobert.

AVIA: Aber diese Konstellation, dass Karl Geiger mit dem Gelben Trikot als Topfavorit zu einem Ereignis anreist, gab es diesen Winter schon einmal…

Gerd Siegmund: Aber da ist die Tournee mit vier Springen jeweils auf der Großschanze nicht wirklich vergleichbar. Karl hat in jüngster Vergangenheit bei Weltcups auf der Normalschanze, die ihm wegen seiner Absprungstärke entgegenkommt, mindestens auf dem Podest gestanden, wenn nicht sogar gewonnen. Ich bleibe dabei: Gold geht auf der kleinen Anlage nur über Geiger.

AVIA: Das Thema Nominierung im deutschen Team hast Du schon beleuchtet. Nun ist Severin Freund nochmal Vierter geworden, schaut Olympia aber daheim am Fernseher an. Ist das nicht ungerecht?

Gerd Siegmund: Es wäre müßig, darüber zu debattieren. Severin meint ja selbst, dass er genügend Chancen hatte, um sich rechtzeitig zu qualifizieren. Und er hat gesagt, dass für ihn ohne diese Olympiateilnahme die Welt nicht untergehen wird. Ich wünsche dem Pius Paschke einfach, dass er das wiederfindet, was ihn zu Beginn des Winters stark gemacht hat. Die Power hat er in den Beinen. Aber für meinen Geschmack sitzt er am Schanzentisch etwas zu tief. Für ihn bleiben in Peking zwei offizielle Trainings, um sich für einen Startplatz auf der Normalschanze zu empfehlen. Alles andere wird schwierig.

AVIA: Ein Wort zu den Damen, die erstmals auf dieser Riesenschanze in Willingen angetreten waren.

Gerd Siegmund: Ja, das ist leider vom Wetter her grenzwertig für die Frauen gewesen. Durch die schwierigen Verhältnisse wurden die Leistungsunterschiede brutal aufgedeckt. Nur wenige Springerinnen konnten diese Bedingungen meistern. Hinzu kam der Sturz von Selina Freitag, der aber nichts mit dem Wind zu tun hatte. Da kann man von Glück reden, dass nichts Ernsthaftes passiert ist und sie die Reise zu ihren ersten Spielen antreten konnte.

AVIA: Es heißt, nach einem Sturz sollte man so schnell wie möglich wieder auf die Schanze. Glaubst Du bei ihr an mentale Nachwehen?

Gerd Siegmund: Nein, denn es ist ein Unterschied, ob du gleich nach dem Absprung ein Salto schlägst oder wie Selina nach einem ansprechenden Flug ein Problem bei der Landung auftritt. Den Sturz sollte sie gut wegstecken. Ich habe 1999 bei der Tournee in Bischofshofen übrigens auch mal so ein Rad auf dem Hang geschlagen. Am nächsten Morgen fühlt sich das körperlich nicht gerade gut an. Aber auch ich habe es überlebt und bin paar Tage später in Engelberg wieder gesprungen.

AVIA: Weil wir gerade bei den Damen sind: Das Thema Corona bleibt leider präsent. Kannst Du mit Sara Marita Kramer mitfühlen?

Gerd Siegmund: Ja klar. Ich weiß, dass ihre Mutter früh verstorben war. Der Sport hat ihr geholfen, diese schwere Zeit zu überstehen. Unfassbar, dass sie nun wenige Tage vor Olympia einen positiven Test hat. Sie wäre bereits im Vorwinter Gewinnerin des Gesamtweltcups geworden, wenn sie nicht in Rasnov wegen eines positiven Falschtests Startverbot bekommen hätte. Jetzt verpasst die mit Abstand beste Springerin der Saison Olympia. Ich glaube, es wird für sie nicht einfach, das zu verdauen.

AVIA: Die Olympiaprobe fiel im vergangenen Jahr Corona zum Opfer. Kannst Du uns trotzdem etwas über die Charakteristik der Schanzen erzählen und was das für die Wettkämpfe bedeuten könnte?

Gerd Siegmund: Die Anlagen sind neu, sie entsprechen den Profilen moderner Schanzen, wie sie in jüngster Vergangenheit auch anderswo entstanden sind. Die Charakteristik sollte also keine Überraschung darstellen. Die Frage wird noch sein, ob die Höhenlage eine Auswirkung auf die Anzugstoffe hat und es da Unterschiede geben wird.

AVIA: Apropos. Vor Olympia wird doch meistens noch mal an der Materialschraube gedreht. Bisher war es aber eher ruhig in diesem Bereich, oder?

Gerd Siegmund: Nicht ganz. Bundestrainer Stefan Horngacher hat gegen die neuen Schuhe der Polen Protest eingelegt, weil sie als Neuentwicklung nicht beim Weltverband angemeldet wurden. Und die FIS hat sie meines Wissens danach auch verboten. Im Gegenzug haben die Polen ein neues Bindungsteil der Deutschen moniert. Ich denke, das sind so Psychospielchen, die nicht selten vor Saisonhöhepunkten aufkommen. Ich bleibe auf jeden Fall dran am Thema.

AVIA: Danke für das Gespräch, wir sind schon gespannt!

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News: Wintersport
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