Das sind meine Tournee-Favoriten

Einmal Karl Geiger ganz oben auf dem Treppchen vor Ryoyu Kobayashi, einmal umgekehrt: Bei der Generalprobe zur Vierschanzentournee in Engelberg kristallisierten sich der Allgäuer und der Japaner als Topfavoriten für das erste Saison-Highlight der Skispringer heraus. Doch es wäre nicht das erste Mal, wenn der Schanzen-Grand-Slam zum Jahreswechsel Überraschungen bereithält. Im Interview mit AVIA verrät uns Skisprungexperte Gerd Siegmund seine Tournee-Favoriten.


AVIA: Hallo Gerd. Erst einmal Glückwunsch: Karl Geiger hat auf Dich gehört und ist nach dem Ausrutscher in Klingental sofort zurückgekehrt.

Gerd Siegmund: Ja, danke für die Blumen. Ich reiche sie bei der Tournee an Karl weiter. Aber Spaß beiseite: Dass der Mann im Gelben Trikot als Tournee-Favorit gilt, ist logisch. Die Frage wird sein, ob es nach Gesamtrang drei und zwei in den letzten zwei Jahren wieder mindestens einen geben wird, der besser ist als er. Von dem Mythos, dass der Gesamtweltcupführende gefühlt in den letzten 20 Jahren nie als Tourneesieger hervorging, halte ich jedenfalls nichts. Und das hat gar nicht mal was mit Patriotismus zu tun.

AVIA: Mit was hat es dann etwas zu tun?

Gerd Siegmund: Es sind vier Springen, ein bisschen im anderen Modus durch das K.-o.-System als bei üblichen Weltcupspringen. Deshalb können die Topleute vielleicht eher einmal bei unterschiedlichen Bedingungen springen. Aber ob sich das im Endeffekt entscheidend auswirkt, bleibt abzuwarten. In Engelberg hat der Wind am Sonntag auch schnell gewechselt. Am Ende waren aber wieder Kobayashi, diesmal schon mit großem Vorsprung, und Geiger vorn.

AVIA: Ist der Heimvorteil der deutschen Skispringer durch die Probleme mit dem Aufsprunghang in Oberstdorf dahin?

Gerd Siegmund: Ich weiß nicht, ob es einen Heimvorteil im größeren Maße überhaupt gab. Im Grunde kennen die weltbesten Athleten die Anlage aus vielen Jahren Tournee. Im Sommer und Herbst konnte aufgrund der Problematik niemand auf der Schanze trainieren. Aber dafür hat die deutsche Mannschaft in dieser Woche zwei Übungseinheiten in Oberstdorf absolviert. Die Springer konnten so schon mal testen. Aber für Karl ist es ja ohnehin seine Hausschanze.

AVIA: Und Karl Geiger müsste wissen, wie es ist, als Favorit in die Tournee zu gehen. Hilft das?

Gerd Siegmund: Es schadet jedenfalls nicht. Aber er hat ja auch bereits mit dem Titel bei der Skiflug-WM oder seinen Medaillen bei der Heim-WM im letzten Winter bewiesen, dass er ein gestandener Athlet ist. Er weiß, was er machen muss, damit er in der Lage ist, auf dem Podest zu landen. Wenn er in den acht Tourneesprüngen sein Niveau abrufen kann, ist er nur schwer zu schlagen.

AVIA: Erwartest Du dieses Duell zwischen ihm und Ryoyu Kobayashi um den Gesamtsieg?

Gerd Siegmund: Das würde ich nicht unbedingt unterschrieben, auch wenn es auf dem Papier so aussieht. Kobayashi weiß zwar, wie Tournee geht. Er hat ja 2018/19 alle vier Springen gewonnen. Aber einfach eins und eins zusammenzählen, das ist bei der Tournee schon manchmal nicht aufgegangen. Ich würde zum Beispiel einen Stefan Kraft nicht vergessen. Mit Kamil Stoch, den letzten Gesamtsieger, rechne ich zumindest in Einzelspringen, auch wenn sein polnisches Team gerade ziemlich in den Seilen hängt. Für die Gesamtwertung ist er mir, wie Markus Eisenbichler im Übrigen auch, derzeit ein bisschen zu instabil.

AVIA: Hast Du einen Geheimfavoriten?

Gerd Siegmund: Ja, nur wenn ich ihn nenne, ist er nicht mehr geheim … Aber im Ernst: Mit Blick auf Engelberg fällt mir spontan Kilian Peier ein. Der Schweizer hat eine deutlich ansteigende Form gezeigt, saß am Sonntag als Letzter auf dem Balken. Das konnte er im Finale zwar nicht ganz bestätigen. Aber zur Tournee hat er den wenigsten Druck. Den einzigen Druck, den er hat, ist der, den er sich selbst macht. Für mich ist er ein kompletter Springer, der vor seiner Kreuzbandverletzung bereits 2019 WM-Dritter in Innsbruck war.

AVIA: Auch wenn das Thema leidig ist: Freust Du Dich auf die Tournee, die zum zweiten Mal in Folge ohne Zuschauer stattfinden wird?

Gerd Siegmund: Ja klar freue ich mich auf hochkarätigen und spannenden Sport. Und wie ich gehört habe, werden zumindest in Österreich Fans zugelassen. In Innsbruck sollen wohl 4000 und in Bischofshofen 3500 Zuschauer auf zugewiesenen Sitzplätzen dabei sein können. Das ist ja schon mal erfreulich. 

AVIA: In den deutschen Orten wird aber der zwölfte Mann, um mal in den Fußball zu springen, den DSV-Adlern fehlen.

Gerd Siegmund: Ja, die Athleten kennen es jedoch schon aus dem Vorjahr, wie es ist, vor leeren Rängen zu springen. Leider. Den einen oder anderen kann das vielleicht hemmen. Aus deutscher Sicht ist es vielleicht sogar ein kleiner Vorteil, wenn der Trubel rund um die Tournee nicht ganz so groß ist. Aber klar, das Fluidum, in ein Fahnenmeer zu fliegen, hätten alle Beteiligten liebend gern.

AVIA: Danke für das Gespräch! 

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News: Wintersport
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