AVIA: Ende gut, alles gut: Lautet so aus deutscher Sicht Dein Fazit für diese Tournee?
Gerd Siegmund: Nicht ganz. Ich würde das sehr differenziert betrachten. Karl Geiger hat innerhalb seiner Superentwicklung ganz großen Sport gezeigt, ist nach dem Malheur von Innsbruck stark zurückgekommen. Er findet auch in Interviews den richtigen Ton. Dieser eine verkorkste Sprung am Bergisel hat ihn nicht aus der Bahn geworfen. Man kann ihm nur gratulieren.
AVIA: Wie beurteilst Du die Leistung von Markus Eisenbichler, der zweiten großen Tourneehoffnung?
Gerd Siegmund: Ich hatte ihn ja mit auf dem Zettel. Dass er in B’hofen das Finale verpasst, kam vermutlich nicht nur für mich überraschend. Er hat alles auf eine Karte gesetzt. Das kann gut gehen, muss aber nicht. Unabhängig davon wird er die Tournee mit den Trainern analysieren und schauen, wo seine Stärke, die er zu Beginn des Winters hatte, verloren gegangen ist. Da gilt es jetzt, vielleicht wieder mit einer gewissen Gelassenheit die Sprünge anzugehen.
AVIA: Könnte er mental daran gescheitert sein, dass aus deutscher Sicht aufgrund der Vorleistungen und Geigers Corona-Auszeit auf ihm der größte Erwartungsdruck lastete?
Gerd Siegmund: Das denke ich nicht. Trotz Karl Geigers Pause haben sich beide diese Rolle geteilt. Ich denke eher, dass Markus gemerkt hat, die hinter mir kommen immer näher, beziehungsweise Granerud war dann vor der Tournee schon einige Male einen Tick besser. Da fängst du an zu überlegen, was kann ich noch ändern, was kann ich verbessern, um ihn wieder zu schlagen. Und in diesem Probieren geht manchmal etwas die eigene Stärke flöten. Es haben sich bei ihm kleinere technische Fehler im Sprung eingeschlichen. Dadurch geht auch das Selbstverständnis ein bisschen verloren.
AVIA: War das bei Halvor Egner Granerud auch so?
Gerd Siegmund: Ähnlich zumindest. Er kam mit fünf Saisonsiegen nach Oberstdorf, war plötzlich nicht mehr ganz vorn. Klar denkst du dann nach. Er ist auch technisch nicht mehr so sauber gesprungen, musste bisschen mehr eingreifen, die Sprünge liefen nicht mehr so, wie er sie vorher fast im Schlaf abrufen konnte. Dazu kommt das gewachsene Anspruchsdenken. Dann fühlen sich zweite, dritte oder vierte Plätze auf einmal enttäuschend an, was mental nicht einfach zu verarbeiten ist.
AVIA: Letztlich hat es ja auch mit Kamil Stoch den richtigen getroffen: Wo siehst Du die Vorzüge des nunmehr dreimaligen Tournee-Gewinners?
Gerd Siegmund: Ja, das war herausragend, beeindruckend und absolut verdient. Er hat keine Zweifel aufkommen lassen, dass er die Tournee nicht nach Hause bringt. Ich ziehe den Hut vor ihm und bin gespannt, wie lange er in dieser Form springt.
AVIA: Auffallend ist ja, dass er nun schon über mehrere Jahre dieses Topniveau verkörpert. Wie erklärst du das?
Gerd Siegmund: Er hat seinen Sprungstil immer auch den veränderten Gegebenheiten, sei es im Material oder den Schanzenprofilen, angepasst. Die Hände hält er im Flug etwas weiter weg vom Körper, um noch ein bisschen Tragfläche rauszuholen. Und diesen Winter fährt er etwas tiefer an, vergrößert so bei Absprung den Hebel und achtet nicht mehr nur darauf, die Geschwindigkeit mitzunehmen. Seine Flughaltung ist ja schon immer toll anzusehen, besonders auch sein Telemark.
AVIA: Gibt es da im Hause Siegmund bald Video-Lehrvorführungen?
Gerd Siegmund: Mindestens dreimal am Tag. Aber Spaß beiseite. Ich habe meinem Sohn gleich gesagt, dass ich von Kamil persönlich weiß, dass er schon als Kind und in der Jugend großen Wert auf den Telemark gelegt hat. Landung, Landung, Landung – das ist überall für den Nachwuchs superwichtig. Bei Stoch hat man das Gefühl, der kann auch im hohen Weitenbereich gar nicht umfallen. Es heißt nicht umsonst, was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.
AVIA: Noch eine Frage, auch in eigener Sache, zum kommenden Wochenende. Was erwartest Du von den Weltcups in Titisee-Neustadt?
Gerd Siegmund: Es ist schön, dass AVIA als Hauptsponsor an Bord ist. Eine Tournee-Revanche birgt immer Spannung. Die Schanze ist sehr groß, entsprechend erwarte ich spektakuläre Flüge unter Flutlicht. Und ich hoffe, dass Martin Hamann wieder das zeigen kann, was ihm bei der Tournee gerade in Garmisch und Innsbruck mit den Top-15-Ergebnissen gelungen ist. Es wäre wichtig für ihn, immer schön unter den besten vier Deutschen zu sein. Dann wird auch keiner auf den Gedanken kommen, ihn nicht mit zur WM zu nehmen.
AVIA: Danke für das Gespräch.